Film des Monats: März 2023

Saint Omer
Regie: Alice Diop
Drehbuch: Alice Diop, Amrita David, Marie NDiaye
Frankreich 2022

Zu Recherchen für ihr neues Buch reist die Schriftstellerin Rama (Kayije Kagame) in die nordfranzösische Kleinstadt Saint-Omer, wo ein Aufsehen erregender Prozess stattfindet: Die senegalesische Studentin Laurence Coly (Guslagie Malanda) wird beschuldigt, ihre 15 Monate alte Tochter ermordet zu haben. Die Tatsachen - Coly hat das Kleinkind bei einbrechender Flut am Strand zurückgelassen, damit es stirbt - sind gesichert, unklar bleiben jedoch die Gründe und Motive, die eine resolute Richterin (Valérie Dréville) herauszuschälen versucht: War Coly egoistisch und des Kindes überdrüssig, wie der Staatsanwalt meint? War sie vom Kindsvater vernachlässigt worden? Von den ehrgeizigen Erwartungen ihrer Eltern überfordert? Hatten ihre Tanten im Senegal sie verhext, wie sie selbst behauptet?

Regisseurin und Drehbuchautorin Alice Diop behandelt in ihrem Spielfilmdebut existenzielle Menschheitsthemen wie Schuld und Gerechtigkeit, Mutterschaft, soziale Hierarchie und gesellschaftliche Zwänge. Ihrer Geschichte liegt ein wahrer Fall zugrunde. Doch im Film schafft der Prozess keine Klarheit, sondern legt Vieldeutigkeit offen. Nicht das Gesetz, sondern der Mythos bietet einen Schlüssel zum Verständnis: Die antike Figur der Medea dient Rama als Interpretationsrahmen für ihr Buchprojekt.

Mit komplexen und sorgfältig getexteten Dialogen stellt sich Diop in eine französische Filmtradition, die psychische Strukturen und unbewusste Beziehungsdynamiken durch Versprachlichung offenzulegen versucht. Gleichzeitig machen die langen, nahen Einstellungen von Kamerafrau Claire Mathon (Portrait einer jungen Frau in Flammen) auf schweigende, zuhörende Gesichter deutlich, dass dies kaum gelingen kann.

In einer Zeit, in der Kulturkämpfe, Rassismus und Identitätspolitiken den öffentlichen Diskurs bestimmen, verteidigt Alice Diop mit diesem Film die Universalität humanistischer Ideen. Doch dies gerade nicht, indem nicht-westliche Traditionen und kulturelle Kontexte ausgelöscht, sondern indem sie integriert werden. Und indem die allen Kulturen gemeinsame Grundlage menschlicher Gesellschaften ins Zentrum gestellt wird, statt sie wie die patriarchale Tradition auszuschließen: Mutterschaft.

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Webtrailer
Film-Credits
Frankreich 2022
Produzent:
Rym Hachimi, Paul Sergent
Regie:
Alice Diop
Drehbuch:
Alice Diop, Amrita David, Marie NDiaye
Kamera:
Claire Mathon
Schnitt:
Amrita David
Darsteller:
Kayije Kagame, Guslagie Malanda, Valérie Dréville, Aurélia Petit
Format:
DCP, Farbe, OmU-Fassung, 123 Minuten
Verleih:
Grandfilm
Muggenhofer Str. 132d, Bau 74, 90429 Nürnberg, Tel.:+49 0911 810 96 671, verleih@grandfilm.de, www.grandfilm.de
Preise:
Oscars – bester internationaler Film – Shortlist (2023), Venedig International Film Festival – Großer Preis der Jury, Preis für das beste Debüt, Edipo Re Preis (2022), Sevilla International Film Festival – Bester Film (2022), Genf International Film Festival – Bester Film (2022), International Film Festival Gent – Grand Prix: Bester Film (2022), European Film Awards: Nominierung „European Director“, Alice Diop (2022)
Kinostart:
9.3.2023