Film des Jahres: 2021

Kabul, City in the Wind
Regie: Aboozar Amini
Drehbuch: Aboozar Amini
Niederlande 2018

"Kabul, City in the Wind" war Film des Monats: Februar 2021

Info:

Seit siebzig Jahren vergibt die Evangelische Filmjury ihre monatlichen Empfehlungen FILM DES MONATS an einen aktuell im Kino gestarteten Film. Aus den 2021 ausgezeichneten Filmen wählte sie den Film "Kabul, City in the Wind" zum FILM DES JAHRES.

Ein Busfahrer singt ein wehmütiges Lied: »Das ist unser geliebtes Land. Das ist Afghanistan.« Zwei kleine Jungen sitzen auf einem Dach, den Rücken der Kamera zugewandt. Sie blicken hinab auf die Millionenstadt Kabul, ein farbentleertes Betonmeer, vor ihnen in der Ebene. Afshin träumt davon, einmal Ingenieur zu werden, sein jüngerer Bruder Benjamin will Polizist werden. Doch was ist das für ein Leben, was für eine Zukunft, wenn der Begriff »Selbstmordattentäter« wie selbstverständlich zum Wortschatz eines Elfjährigen gehört?
„Kabul, City in the Wind“ ist ein Dokumentarfilm mit besonderer poetischer Kraft. Der in Afghanistan geborene Regisseur Aboozar Amini schildert die Lebensverhältnisse gewöhnlicher Menschen in einem von Krieg und Gewalt gezeichneten Land. Angesichts der derzeitigen politischen Situation in Afghanistan verdient dieser sorgfältig komponierte Film noch einmal umso mehr unsere Aufmerksamkeit, begründet die Jury ihre Entscheidung.
Der Film wurde von Brot für die Welt aus Mitteln des kirchlichen Entwicklungsdienstes und über das Evangelische Zentrum für entwicklungsbezogene Filmarbeit (EZEF) gefördert.

Am Mittwoch, 15. Dezember 2021, fand die Preisverleihung mit Filmvorführung im DFF - Deutsches Filminstitut & Filmmuseum in Frankfurt mit Livezuschaltung des Regisseurs statt. Geehrt wurden die Filmemacher und Jip Film, der Verleiher des Film des Jahres. Die Laudatio wurde von Anne-Kathrin Brinkmann, Redakteurin ZDF/arte, gehalten. Geleitet wurde der Abend von Dr. Margrit Frölich, Vorsitzende der Evangelischen Filmjury und Studienleiterin der Evangelischen Akademie Frankfurt, und Natascha Gikas, Leiterin des Kinos im DFF.


Laudatio:

 

LAUDATIO “KABUL, CITY IN THE WIND” 

von Anne-Kathrin Brinkmann (ZDF/arte)

Gehalten am 15.12.21 im Filmmuseum Frankfurt

 

Sehr geehrte Damen und Herren, 

liebe Kinofreund*innen, 

 

es ist mir eine Freude, Ihnen heute Abend einen Filmemacher und einen Film vorstellen zu dürfen, der schon vor drei Jahren fertig gestellt wurde, aber es gerade in diesem Jahr, 2021, verdient als Film des Jahres ausgezeichnet zu werden.

 

Ich habe „Kabul, City in the Wind“ zum ersten Mal im Frühjahr 2020 gesehen, als ich Mitglied der Jury der „Filmtage Globale Perspektiven“ war. Beeindruckt von der poetischen Gestaltung des Films und wie es ihm gelingt, mit seinen „vermeintlich kleinen, regionalen, menschlichen Geschichten von zwei Jungen und einem Busfahrer die Stadt Kabul zu einem Symbol dafür zu machen, was Leben, so nahe an Krieg, bedeutet“ (Anm.: aus der Begründung der Jury), zeichnete unsere Jury ihn mit dem ersten Preis aus. 

 

Aboozar Aminis Dokumentarfilm hatte damals schon eine beeindruckende Festivalreise hinter sich. 2018 eröffnete er das bedeutendste europäische Festival für Dokumentarfilm in Amsterdam, wo er den Sonderpreis der Jury im „First Appearance“-Wettbewerb gewann.  Danach war „Kabul, City in the Wind“ auf Festivals, u.a. in Kopenhagen, Nyon, München und Florenz zu sehen und im September dieses Jahres startete er schließlich -aufgrund der Pandemie viel später als geplant – in den deutschen Kinos, und damit kurz nachdem die Taliban in Afghanistan die Macht übernommen hatten.

 

Im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gab es kürzlich einen Artikel mit der Überschrift „Was wir dem Jahr 2021 übel nehmen“.  Und darin werden neben all den weggeworfenen Impfdosen und all den Tagen, in denen wir nicht ins Kino gehen konnten und allerlei anderen Dingen auch die Taliban genannt - Zitat:  

„Diese verdammten Taliban. 

Die Illusion, mit militärischer Gewalt eine Zivilgesellschaft in Afghanistan aufbauen zu können. 

Das Ende dieser Illusion. 

Und dass man erst jetzt sah, wie klug, wie mutig die Menschen in Afghanistan sind, als man gezwungen wurde hinzuschauen.“

 

Mit Aboozar Amini wird heute ein Filmemacher geehrt, der es sich schon lange vor der Machtübernahme der Taliban zur Aufgabe gemacht hat, genau hinzuschauen und in schmerzlichen wie poetischen Bildern zu erzählen, was die Menschen in seinem Herkunftsland Afghanistan bewegt.

 40 Jahre Krieg – was macht das mit einem Land und seinen Bewohner*innen? Aminis Filme zwingen uns nicht, sondern laden uns ein, mit ihm gemeinsam genauer hinzuschauen. Sie erklären und kommentieren nicht, sondern lassen uns teilhaben an den Erlebnissen und Erfahrungen der Menschen, die sie portraitieren, und ermöglichen uns somit einen empathischen Zugang zu ihrer Welt und ihren Gefühlen.

 

Es ist eine Welt, die sich auch Aboozar Amini erst wieder erschließen musste, nachdem er als Teenager 2001 aus Afghanistan in die Niederlande geflohen war. Dort studierte er an der Kunstakademie in Amsterdam und schloss sein Studium 2010 mit dem Kurzfilm „Kabul Teheran Kabul“ ab, für dessen Dreh er zum ersten Mal nach seiner Flucht wieder nach Afghanistan reiste.  

 

Danach ging er nach London, um an der London Film School seinen Master zu machen. Dort entstand 2015 sein mehrfach ausgezeichneter Kurzspielfilm „Angelus Novus“, der die Geschichte von zwei Brüdern erzählt, die mit ihren Eltern auf der Flucht aus Afghanistan in der Türkei landen und dort ihre Weiterreise nach Deutschland planen.  Einer der beiden Jungen auf dieser „Reise ins Ungewisse“ ist so alt wie Aboozar damals war, als er zu Beginn des Afghanistan-Kriegs sein Heimatland verließ.

 

In Afghanistan Filme zu drehen ist in den letzten Jahren immer gefährlicher geworden, aber Amini ist dorthin mehrfach zurückgekehrt. Für „Kabul, City in the Wind“, seinen ersten Kino-Dokumentarfilm, reiste er zwischen 2015 und 2018 insgesamt 15 Male mit einem Kleinstteam an den Hindukusch. Bei jedem dieser Aufenthalte hat er Selbstmordattentate erlebt. So auch im Juli 2016, als eine Bombe auf dem Deh Mazang-Platz inmitten eines friedlichen Demonstrationszuges der Hazara für mehr Gerechtigkeit explodierte. Es war einer der schwersten Bombenanschläge der letzten Jahre, bei dem 80 Menschen zu Tode und mehr als 230 Menschen verletzt wurden- einer der vielen Verletzten war der Vater der beiden im Film portraitierten Brüder Afshin und Benjamin. 

Aber Aboozar Amini zeigt in „Kabul, City in the Wind“ keine Bilder der Selbstmordattentate, er zeigt überhaupt keine Bilder der Gewalt. Stattdessen erzählt er vom fragilen, alltäglichen Leben dreier Menschen in Kabul - von ihren Nöten, Hoffnungen, Wünschen, Ängsten und Träumen - von der gefühlten Gewalt und den Herausforderungen, die ein Alltag zwischen Bombenanschlägen mit sich bringt - in einem Krieg, der nicht ihr Krieg ist und in einer instabilen Stadt, die ihnen alles bedeutet, weil sie doch ihr Zuhause ist. 

 

Amini, der auch für die beeindruckende Kameraarbeit verantwortlich zeichnet, hat sich viel Zeit genommen, um dieses Leben zu erspüren. Und weil genaue Beobachtung und filmische Poesie für ihn kein Widerspruch sind, ist „Kabul, City in the Wind“ auch ein außergewöhnlich schöner, weil sorgfältig komponierter Dokumentarfilm. Aufmerksam und geduldig folgt der Filmemacher dem Brüderpaar Afshin und Benjamin und dem Busfahrer Abbas auf ihren Wegen durch eine staubige und windige Stadt. Amini erzählt ihre Geschichten parallel und greift dabei einzelne Begebenheiten und momenthafte Beobachtungen auf, um sie dann wieder in den dynamischen Fluss des Lebens zu entlassen, ihrem ungewissen Schicksal entgegentreibend. Wie der titelgebende Wind, der auch nicht aufhört, durch die Stadt zu wehen. 

 

„City in the Wind“ ist seine melancholische Liebeserklärung an die Stadt Kabul, eine Hymne an das „Trotzdem“ ihrer Bewohner*innen, die für ihn die wirklichen – klugen, gefährdeten wie mutigen – Held*innen sind, und die er als Akteur*innen ihres Lebens zeigt, das unsere Aufmerksamkeit, Respekt und Sorge verdient. 

Im Jahr vor der Machtübernahme der Taliban hat Aboozar Amini die Arbeit an einem neuen Filmprojekt begonnen, in dem die Geschichten des Busfahrers Abbas und des Jungen Afshin aus „Kabul, City in the Wind“ eine Fortsetzung in Spielfilmform mit Laiendarstellern finden sollen. Es heißt „Ways to run“ und wird, was mich sehr freut, von der Nachwuchsredaktion des ZDF, dem kleinen Fernsehspiel, koproduziert. In einer Notiz zu diesem Filmprojekt schreibt der Filmemacher: 

„Während ich das Leben in Kabul beobachtete, hatte ich das Gefühl, als seien die Bewohner Kabuls Wanderer, die nicht zum Leben dort wären, sondern nur auf der Durchreise sind. Da ist ein ständiger Kampf zwischen der Mühsal von Bleiben und Gehen, von Vergangenheit und Zukunft, von Gut und Böse oder umgekehrt, von einem Regime zum nächsten, vom Leben zum Tod und vom Tod zum Leben.“

 

Nun sind seit diesem Sommer die Taliban wieder an der Macht und wollen das Land in eine dunkle Vergangenheit zurückführen. Abouzar Amini, der Kabul noch rechtzeitig verlassen konnte, hat in vielen Interviews seitdem um Solidarität mit der afghanischen Bevölkerung geworben und dabei hervorgehoben, wie sehr sie sich von ihrer Regierung, den USA und Europa verraten fühlt und dass er befürchtet, dass Kabul nun jeden Tag, Stück für Stück, sein Leben verliert. 

Ein Leben, das schon in „Kabul, City in the Wind“ in seinem ganzen Gefährdetsein - durch den IS und  die Taliban - aufscheint.

Sie werden sich nach dem Anschauen des Films sicherlich fragen, wie es dem Busfahrer Abbas und dem Brüderpaar Afshin und Benjamin nach der Machtübernahme der Taliban ergangen ist. Dadurch dass der Vater der Jungen früher als Soldat gegen die Taliban gekämpft hatte, waren die Beiden tatsächlich in großer Gefahr. Glücklicherweise konnte Amini erreichen, dass sie zusammen mit ihrer Mutter durch das Auswärtige Amt der Niederlande nach Amsterdam ausgeflogen wurden. 

 

Und so gibt es Hoffnung, dass wir sie, und auch den Busfahrer Abbas, wiedersehen werden – als Darsteller ihrer selbst, als Wanderer zwischen den Welten, in „Ways to run“, dem nächsten Film von Aboozar Amini, der wieder eine Geschichte aus Afghanistan erzählen wird – auch wenn er sie dort, vorort, nicht mehr drehen kann. 

 

Die Verleihung des Preises der evangelischen Filmjury 2021 an „Kabul, City in the Wind“ verstehe ich auch als Ermutigung und Bitte an Abouzar Amini weiterzumachen.  

Wir brauchen seine präzise beobachtenden, poetischen wie politischen Filme, die uns ermöglichen anders hinzuschauen und uns empfindsam machen für die komplexen Realitäten in Afghanistan.

 

Vielen Dank und Herzlichen Glückwunsch, Aboozar Amini, zu diesem Preis.

 

Kathrin Brinkmann

Dezember 2021

 

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